Sechs Stunden Angst vor der schrecklichen Gewissheit

Von FOCUS-Chefredakteur Helmut Markwort

Montag, 7. April 2003

Dass er seit Stunden nicht mehr angerufen hatte, war das zweite schlimme Zeichen. Alle, die eng mit Christian Liebig zusammengearbeitet haben, kannten seine Zuverlässigkeit und interpretierten sein Verstummen als schreckliches Indiz, aber keiner mochte seine Befürchtung laut aussprechen. Der erste Hinweis stand schon in der Meldung, die Associated Press um 15.47 Uhr verbreitet hatte: Ein deutscher und ein spanischer Journalist seien südlich von Bagdad von einer Rakete getötet worden. Die Kollegen liefen auf die Flure und beruhigten sich gegenseitig, der Deutsche werde ja wohl nicht ausgerechnet Christian Liebig sein.

Wir vier oder fünf aber, die wegen seiner Irak-Berichte häufig mit ihm telefonierten, wussten aus seinen Erzählungen, dass er schon seit Kuwait viel mit einem Kollegen der spanischen Tageszeitung „El Mundo“ zusammen gewesen war. Und wir wussten noch mehr, das uns die Kehle zusammenschnürte: Christian Liebig war ganz bewusst im Hauptquartier südlich von Bagdad geblieben und hatte – aus Vorsicht – nicht die Kommandos ins Zentrum begleitet, die dort einen Präsidentenpalast stürmten. Fast flüsternd rekonstruierten Ulrich Schmidla, der Leiter unseres Auslandsressorts, und ich noch einmal unsere letzten Telefonate mit Christian Liebig, beide in der verzweifelten Hoffnung, einen befreienden Fehler in unserer Kombinationskette zu finden. Am Samstagabend hatte unser Mann im Irak bei Ulrich Schmidla zu Hause angerufen und gesagt: „Ich bin richtig happy, denn ich bin am wichtigsten Platz, da, wo die Entscheidungen fallen. Die Offiziere geben mir Informationen aus der Zentrale.“ Am Sonntagabend, kurz nach 22 Uhr, hatte er bei mir angerufen und klang hörbar erleichtert. Nie werde ich vergessen, wie er zu mir sagte: „Ich glaube, ich habe die wichtigste Entscheidung meines Lebens getroffen.“ „Riskieren Sie nichts“, sagte ich, er beruhigte mich lachend: „Ich habe mich gegen den Pulitzer-Preis entschieden und für meine Sicherheit.“ Ich beglückwünschte ihn.

Den Hintergrund seiner wichtigen Entscheidung durfte er zu diesem Zeitpunkt nicht nennen, aber ich machte mir den richtigen Reim auf seine Andeutungen.

Am Montag früh, als der Angriff geglückt war, begründete er Ulrich Schmidla die Entscheidung im Zusammenhang.

Weil ihm das Eindringen in die Hussein-Paläste zu gefährlich erschien, war er im Camp geblieben. Auch Schmidla lobte seine Haltung. Das war um acht. Kurz vor neun hatte Liebig zum letzten Mal mit seinen Eltern telefoniert. Um 9.13 Uhr hatte mein ordentliches Sekretariat den letzten Anruf in der Redaktion notiert: Er wolle sich vormittags noch einmal melden. Ausnahmsweise ließ ich in der Konferenz mein Handy an, aber Christian Liebig hat nie wieder angerufen.

Dass er sich nach der Nachricht über den Tod eines deutschen Journalisten nicht gemeldet hatte, um uns zu beruhigen, bestärkte uns in dem schrecklichen Verdacht, dass er selber das Opfer war. „Er ist es nicht, er ist es nicht, er lebt“, rief Ellen Daniel, die seit 1999 mit ihm ein Büro teilt und ihn am besten kennt. Mindestens zweimal am Tag haben die beiden so laut miteinander gelacht, dass es im ganzen Flur zu hören war. Jetzt hatte Ellen Daniel nur Angst, dass jemand anrufen und den Tod bestätigen könnte.

Um 18 Uhr war der Außenminister am Apparat. „Ihr Anruf wird uns wohl die letzte Hoffnung nehmen“ fürchtete ich. „Nein“ sagte Joschka Fischer, „ich bin ja in Israel nicht so gut informiert und wollte nur fragen, ob Sie mehr wissen, hören, ob es Ihr Mann war.“ Sein Anruf tat gut, vor allem aber ließ er uns noch einen Funken Hoffnung. In Dauertelefonaten mit Christian Liebigs Eltern versicherten wir uns gegenseitig, dass es nur Gerüchte gab, keine Bestätigung.

Zwischen 22.15 und 22.30 erreichte uns die furchtbare Gewissheit gleich von drei Seiten. Die Sprecherin des Pentagon informierte unseren Washingtoner Korrespondenten Peter Gruber, ein Major der US-Armee meldete Ulrich Schmidla die Identifikation, und Joschka Fischer rief noch einmal mitfühlend aus Jerusalem an. Ihn hatte Colin Powell verständigt. Wir rufen die Eltern von Christian Liebig an. Ende der Beschreibung.

Donnerstag, 10. April 2003

Für Christian Liebigs Eltern, für seine Lebensgefährtin und für uns Kollegen ist es ein kleiner Trost in der großen Trauer, wie viele Leser seinen Tod beklagen und seine unabhängigen, menschlichen Berichte würdigen.

Wir wollen seine Arbeit unvergessen machen.

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