Sie hatten keine Chance

Es war einer jener Morgen, an denen es auch Journalisten nichts ausmacht, in aller Frühe aufzustehen. FOCUS-Reporter Christian Liebig und Julio Anguita Parrado, Korrespondent der spanischen Tageszeitung „El Mundo“, sind guter Stimmung. Der Tag verspricht spannend zu werden.

Die 2. Brigade der 3. US-Infanteriedivision, bei der beide „embedded“ – eingebettet – sind, war am frühen Morgen um 5.30 Uhr Ortszeit – 4.30 MESZ – von ihrem Hauptquartier 15 Kilometer südlich von Bagdad in Richtung irakische Hauptstadt vorgestoßen. Ziel: die Präsidentenpaläste Saddam Husseins.
„Die Soldaten haben das ‚Al-Rashid-Hotel‘ umstellt und eine US-Flagge auf einem Denkmal gehisst“, übermittelt Liebig den Kollegen von FOCUS Online per Satellitentelefon.

Augenzeugen: Oberstleutnant Eric Wesley (M.) und Fox-Techniker Ben Johnson (r.) erlebten den Raketenangriff am 7. April. Fotograf Harald Henden (l.) begleitete Liebig die meiste Zeit.

Auch im hessischen Privatradio FFH berichtet er von den Erfolgen der US-Armee und der heftigen Gegenwehr der Iraker. Der 35-Jährige ist froh über die guten Informationen von der Front, er steht direkt beim Kommandostab, vor sich einen Stadtplan von Bagdad, auf dem Offiziere Soldaten wie Figuren auf einem Schachbrett vorwärts schieben. 

Der Platz verwandelte sich in ein Inferno. Auch der 32-jährige Parrado versorgt an diesem Morgen dreimal die Kollegen der „El Mundo“-Online-Redaktion mit den frischesten News, gegen 9.30 Uhr das letzte Mal. Liebig meldet sich noch einmal kurz nach zehn Uhr Ortszeit – neun Uhr MESZ – in der FOCUS-Redaktion. Zuvor hatte er seine Eltern in Schwalbach am Taunus angerufen: „Schaltet mal FFH ein, da kommt ein Interview mit mir.“

Vier Menschen verlieren ihr Leben

Wucht der Explosion: Sie schleuderte Steine des Lagergebäudes meterweit auf die Panzer. Diese blieben weitgehend unversehrt.

Das waren die letzten Lebenszeichen der beiden Journalisten. Wenig später bricht im Hauptquartier der 2. Brigade die Hölle los. „Ich telefonierte gerade von meinem Mobiltelefon aus, als ich ein Geräusch wie von einem Flugzeug hörte. Dann ging alles extrem schnell. Ich sah einen Blitz zu meiner Linken und hörte eine wahnsinnige Explosion“, berichtet Oberstleutnant Eric Wesley.

„Der Platz verwandelte sich in ein Inferno.“ Auf der westlichen Seite des Quartiers, auf der die Humvees, die bulligen US-Militärjeeps, aufgereiht gestanden hatten, war eine Rakete eingeschlagen. Die Druckwelle schleudert Wesley zu Boden. Im Nu steigt ein riesiger Feuerball in den Himmel. „Mein Satellitentelefon wurde vom Dach eines Wagens gefegt“, erzählt Ben Johnson, Techniker des US-Nachrichtensenders Fox. „Augenblicklich rannten alle Soldaten mit Feuerlöschern, Wasserkanistern, Tragen durch die Gegend. 

Das Feuer griff sofort auf das Gebäude über, in den Fahrzeugen loderten die Flammen.“ Johnson greift sich einen Wasserbehälter und Feuerlöscher, übergibt sie aber auf halbem Weg einem Soldaten. „Da waren so viele Menschen, die gegen das Feuer kämpften und die Verwundeten versorgten, ich hatte das Gefühl, sie brauchten mich nicht.“ Johnson nimmt stattdessen seine Kamera und dokumentiert das Grauen.

Vier Menschen verlieren ihr Leben – die Journalisten Liebig und Parrado und zwei US-Soldaten. Ein dritter GI erliegt später seinen schweren Verbrennungen. 14 weitere Soldaten werden verletzt. Das Feuer zerstört 17 Humvees, lässt von den meisten gerade noch die Motorblöcke übrig.

Christian muss sofort tot gewesen sein

„Christian war vielleicht zwischen 1,5 und fünf Metern von dem Einschlagsort entfernt“, schätzt Wesley. „Er muss sofort tot gewesen sein. Alle hatten sich kein bisschen von dem Platz bewegt, an dem sie zuletzt gesehen worden waren.“ Keiner hatte die Chance, sich zu schützen oder davonzurennen. „Es war einer jener Augenblicke im Leben, in denen man absolut machtlos ist“, sagt der Militär traurig, der es nach eigenen Worten genossen hatte, mit den beiden nachdenklichen Journalisten häufig über den Sinn der Irak-Mission und die Rolle der Medien zu diskutieren. „Wenn man 17 Jahre bei der Armee ist, kriegt man eine ziemlich eingeschränkte Sicht der Dinge. Einmal, als wir downtown in Bagdad gerade einige Erfolge hatten, habe ich Christian gefragt: „Na und, was denken Sie jetzt?“ Und er antwortete: „Es sieht sehr gut aus, aber ich frage mich, was kommt als Nächstes?“

Die Rakete hatte sich dem Hauptquartier mit rasender Geschwindigkeit genähert, zwischen dem ersten Geräusch am Himmel und dem Einschlag vergingen ein paar Wimpernschläge. Nach ersten Erkenntnissen soll es sich um eine irakische Boden-Boden-Rakete vom Typ Ababil-100 mit einer Reichweite von 130 Kilometern handeln. Solche Geschosse, entwickelt aus russischen Scuds, feuerte die irakische Armee auch in Richtung Kuwait ab. Die im Quartier der 2. Brigade ist die einzige, die während dieses Krieges menschliche Ziele trifft.

Die Ababil-Rakete löste einen riesigen Feuerball aus, der sofort auf Gebäude und Fahrzeuge übergriff.

Aus der Art des Treffers schließen die US-Militärs, dass die Rakete ein Präzisionslenksystem gehabt haben muss. Sie bohrt ein Loch von drei Meter Tiefe und drei Meter Durchmesser in die Erde. „Zuerst fürchteten wir, das Geschoss könnte von unserer Artillerie stammen, aber dafür war es zu groß. Wir haben auch die Luftwaffe angerufen, aber sie hatten in den letzten 30 Minuten zuvor keine Bombe abgeworfen“, betont Wesley. Die Rakete sei aus Hilla, 100 Kilometer südlich von Bagdad, abgefeuert worden, vermutet Oberstleutnant Peter C. Bayer. Die Stadt war zu diesem Zeitpunkt noch heftig umkämpft zwischen Saddam-Kräften und US-Armee. Auch das Radar im Leitzentrum konnte bisher das Rätsel der Herkunft nicht lösen. „Es war nördlich ausgerichtet, d.h. wenn die Rakete aus Bagdad gekommen wäre, hätten wir sie erfassen können, sonst nicht“, so Wesley.

Liebig und Parrado hatten keine Chance

Dass sich Liebig und Parrado dort aufhalten, wo die Rakete einschlägt, ist Zufall. Sie entfernen sich vom Kommandozentrum, um zu telefonieren, um aktuelle Informationen durchzugeben. Sie entfernen sich damit auch von der Reihe gepanzerter M-577-Fahrzeuge, die sie vor dem Feuer geschützt hätten. „Viele Journalisten geben ihre Geschichten doch ungern in Gegenwart derjenigen durch, über die sie berichten“, versucht Wesley zu erklären. „Christian hat nichts falsch gemacht, ganz im Gegenteil.“

Der FOCUS-Reporter hatte das Angebot abgelehnt, an jenem Montag mit der Truppe nach Bagdad vorzustoßen. Das sei die wichtigste Entscheidung seines Lebens gewesen, sagt er den Kollegen später. Auch Parrado, mit dem er fast drei Wochen ein Team bildet, macht den Trip nicht mit. 

17 Humvees, schwere US-Jeeps, brannten komplett aus. Von vielen blieb gerade noch der Motorblock übrig.

Die Militärs haben ihm abgeraten, weil seine schusssichere Weste nicht sicher genug sei. „Trotzdem habe ich damit geliebäugelt“, räumt er gegenüber der „El Mundo“-Redaktion ein, „bis zu dem Augenblick, als zwei Soldaten in das Kompaniekrankenhaus eingeliefert wurden. Sie waren durch Granaten verletzt worden und erzählten mir, dass sie ohne ihre Westen tot wären.“ Der norwegische Fotograf Harald Henden bestätigt, wie gefährlich der Marsch nach Bagdad war. „Wir wurden ständig beschossen, überall brennende Fahrzeuge am Wegesrand, für die Strecke vom Hauptquartier bis zum Präsidentenpalast haben wir zweieinhalb Stunden gebraucht. Es waren die schrecklichsten meines Lebens.“

Und trotzdem – alle Journalisten, die den Vorstoß nach Bagdad begleiteten, kehrten wohlbehalten zurück.

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